Stell dir vor, die Jahre 614 bis 911 n. Chr. haben nie existiert. Die Gebäude, die Herrscher und die Ereignisse, die wir heute als Teil der mittelalterlichen Geschichte betrachten, könnten Fiktion sein. Dies ist die Kernaussage der Phantomzeit-Hypothese, die von dem deutschen Historiker Heribert Illig im Jahr 1991 aufgestellt wurde. Laut Illig leben wir in einer Welt, in der 300 Jahre der Geschichte absichtlich hinzugefügt wurden, um politische und religiöse Ziele zu verfolgen. Aber könnte diese gewagte These wirklich wahr sein? Lassen wir die wichtigsten Punkte durchgehen, die darauf hindeuten, dass die Phantomzeit-Theorie mehr als nur eine abwegige Verschwörungstheorie sein könnte.
1. Fehlen historischer und archäologischer Beweise
Ein zentrales Argument von Heribert Illig für die Phantomzeit-Hypothese ist das vermeintliche Fehlen von historischer und archäologischer Dokumentation für den Zeitraum von 614 bis 911 n. Chr. Wenn man genauer hinschaut, scheint es tatsächlich ungewöhnlich wenig Beweise aus dieser Zeit zu geben. Chroniken und Aufzeichnungen aus der Spätantike und dem Hochmittelalter sind vergleichsweise reichhaltig, aber die frühmittelalterliche Periode (insbesondere das 7. bis 9. Jahrhundert) erscheint oft als „dunkles Zeitalter“.
Schriftliche Überlieferungen: Illig und seine Anhänger betonen, dass es in dieser Periode einen Mangel an primären schriftlichen Quellen gibt, die eine klare, zusammenhängende Geschichte der damaligen Zeit vermitteln. Zwar gibt es Texte, die für diesen Zeitraum verfasst wurden, jedoch sind viele von ihnen Abschriften späterer Werke, was Zweifel an ihrer Authentizität aufwirft. Kritiker der Theorie geben zu, dass es im Frühmittelalter generell weniger Aufzeichnungen gibt, aber Illig argumentiert, dass das Ausmaß dieses Mangels verdächtig groß ist.
Archäologische Funde: Auch im Bereich der Archäologie gibt es bemerkenswerte Lücken. Illig weist darauf hin, dass in Mitteleuropa viele Bauwerke, die Karl dem Großen zugeschrieben werden, aus architektonischer Sicht nicht in die angebliche Zeit ihrer Entstehung passen. Die Karlsbasilika in Aachen beispielsweise weist eher Merkmale späterer Bauphasen auf. Diese architektonischen Anomalien nähren den Verdacht, dass die Zeiteinteilung der Geschichte falsch sein könnte.
2. Der Julianische Kalender und die "fehlenden" Jahre
Ein weiteres zentrales Argument der Phantomzeit-Hypothese dreht sich um den Kalender. Vor der Einführung des gregorianischen Kalenders im Jahr 1582 wurde der Julianische Kalender verwendet, der jedoch pro Jahr um 11 Minuten „nachging“. Im Laufe der Jahrhunderte hätte sich dieser kleine Fehler zu einer Diskrepanz von mehreren Tagen summiert.
Als Papst Gregor XIII. den Kalender reformierte, ließ er 10 Tage ausfallen, um die Differenz zwischen dem Julianischen Kalender und dem tatsächlichen Sonnenjahr auszugleichen. Illig argumentiert jedoch, dass bei einer mehr als tausendjährigen Verwendung des Julianischen Kalenders die Abweichung weitaus größer hätte sein müssen – etwa 13 Tage. Dass nur 10 Tage ausgelassen wurden, deutet laut Illig darauf hin, dass 300 Jahre der Geschichte tatsächlich nie stattgefunden haben.
3. Das Mysterium um Karl den Großen
Karl der Große, der erste Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, ist eine der schillerndsten Figuren der europäischen Geschichte. Er gilt als Begründer des mittelalterlichen Europas und als Vater der westlichen Zivilisation. Doch laut Illig könnte Karl der Große gar nicht existiert haben.
Illig weist darauf hin, dass viele der Berichte über Karl den Großen aus Quellen stammen, die weit nach seinem Tod verfasst wurden. Es gibt kaum zeitgenössische Dokumente oder Beweise, die seine Herrschaft bestätigen. Außerdem passen viele Bauwerke, die ihm zugeschrieben werden, wie die Aachener Pfalzkapelle, stilistisch besser in spätere Epochen. Die Behauptung, dass Karl der Große eine erfundene Figur sein könnte, ist ein wesentlicher Bestandteil der Phantomzeit-Hypothese. Laut Illig könnte Karl eine „Propagandafigur“ gewesen sein, die von Otto III. und seinen Verbündeten genutzt wurde, um ihre Macht zu legitimieren.
4. Synchronisation historischer Ereignisse
Ein weiteres starkes Argument für die Phantomzeit-Hypothese ist das Fehlen einer konsistenten Synchronisation von Ereignissen zwischen Europa und anderen Teilen der Welt. Illig behauptet, dass historische Aufzeichnungen aus Europa, dem Nahen Osten und Asien in vielen Fällen nicht übereinstimmen, insbesondere in Bezug auf Ereignisse, die im angeblichen "fehlenden" Zeitraum stattgefunden haben sollen. Dies könnte laut Illig darauf hindeuten, dass europäische Chronisten ihre Zeitrechnung bewusst manipulierten, um die Geschichte besser in ihre eigenen politischen Ziele zu integrieren.
Ein Beispiel hierfür ist die islamische Expansion im 7. Jahrhundert. Laut Illig gibt es Unstimmigkeiten in den Berichten über die muslimischen Eroberungen und die europäische Geschichte zur gleichen Zeit. Solche Diskrepanzen könnten darauf hindeuten, dass die europäische Chronologie manipuliert wurde.
5. Politische Motivation zur Geschichtsfälschung
Warum sollte jemand 300 Jahre Geschichte erfinden? Laut Illig steckt hinter der Phantomzeit-Hypothese ein klarer politischer Plan. Otto III. wollte sich als Herrscher eines „neuen Jahrtausends“ inszenieren. Er und seine Verbündeten könnten die Geschichte rückwirkend verändert haben, um das Jahr 1000 n. Chr. vorzuverlegen. Auf diese Weise hätte Otto III. als Herrscher über das bedeutende Jahrtausend gewirkt, was seine Position als weltlicher und religiöser Führer stärkte.
Diese Manipulation könnte gemeinsam mit der Kirche durchgeführt worden sein, die großes Interesse daran hatte, die Chronologie der Heiligen Schriften und der christlichen Weltgeschichte zu kontrollieren. Eine solche „Manipulation“ der Zeit hätte Otto III. nicht nur politisch legitimiert, sondern auch die Bedeutung Roms und des Papsttums verstärkt.
Fazit: Eine verlockende Verschwörung mit vielen Fragen
Obwohl die Phantomzeit-Hypothese von den meisten Historikern abgelehnt wird, bleiben einige der von Illig aufgeworfenen Fragen faszinierend. Lücken in der Geschichtsschreibung, archäologische Anomalien und kalendarische Unstimmigkeiten bieten durchaus Stoff für Spekulationen. Selbst wenn die Hypothese unwahrscheinlich ist, zeigt sie uns, wie fragil unser Verständnis von Zeit und Geschichte sein kann.
Die Vorstellung, dass ganze Epochen „erfunden“ wurden, regt zum Nachdenken an: Wie sicher können wir uns eigentlich sein, dass das, was uns als historische Tatsache vermittelt wird, auch wirklich so passiert ist?
Quellen:
- Illig, Heribert. Das erfundene Mittelalter: Die größte Zeitfälschung der Geschichte? Ullstein Verlag, 1991.
- Fomenko, Anatoly. History: Fiction or Science? Delamere Publishing, 2003.
- Fried, Johannes. Kein Mittelalter: Urkunden, Fälschungen und die Phantomzeit-Theorie. C.H. Beck, 2002.
- Van Gent, Robert. Calendars in Antiquity and the Middle Ages: A Historical Survey, 2010.
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